wann er sterben würde
...und ich sehe eine Wahrsagerin - so eine wie ich selbst -, die wird ihnen sagen, wann sie sterben werden und auf welche Weise...
Leicht wankend verließ ich die alte Hexe. Ich überlegte, ob sie mich einfach nur ärgern wollte, oder ob sie eine bestimmte Absicht verfolgte mit dem, was sie mir sagte. Ich kam zu keiner Lösung, während ich ziellos durch die Straßen von Essen irrte. Es war schon sehr kalt an diesem Novembermittag, als ich mich entschloss, noch eine andere Wahrsagerin aufzusuchen. Ich wollte auf Nummer sicher gehen. Ich meine, auch die beste Wahrsagerin kann einem doch nicht vorschreiben, wann man stirbt! Ich brauche doch nichts weiter zu tun, als an dem betreffenden Tag einfach aufzupassen. Dann ist das doch unmöglich...
...und außerdem sehe ich ...hm, ich sehe ein Auto - einen zitronengelben Jaguar E - auf sie zu rasen, zwei Meter vor der Tür meines Hauses. Es wird der 9. Januar 1972 sein, genau um 12:36 Uhr. Es tut mir leid, ihnen das sagen zu müssen. Aber es war ihr Wunsch...
Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich war schon auf der Straße. Allem Anschein nach war das schon die Wahrsagerin, die mir meinen Tod voraussagte. Und sogar auf die Minute genau, welch ein Hohn! Aber auch welch ein Vorteil! Da weiß ich ja ganz genau, wann ich aufzupassen habe. Also ein Unfall - hm, da bleibe ich einfach zu hause und rühr mich nicht vom Fleck, bis die mysteriöse Minute vorüber ist. So einfach ist das. Na ja, noch'n ganzer Monat Zeit bis dahin. - Wie war das? Vor dem Haus der Wahrsagerin würde es passieren? Warum zum Teufel gerade da? Was sollte mich da noch mal hin treiben...?
Inzwischen war ich wieder zu Hause angelangt. War ja zum Glück nur'n Katzensprung. Ich sehe gerade auf meine Digitaluhr: Es ist gerade 14:00 Uhr. Also kann ich runter essen gehen. Ich schließe mein Zimmer ab und benutze den Fahrstuhl, um die sechs Stockwerke bequemer überwinden zu können. Unten angekommen bitte ich um ein Mittagessen. Doch man sagt mir: Na, eigentlich gibt's ja noch nix. Ist noch nicht zwei Uhr!
Ich sehe auf die Küchenuhr, da fällt mir ein - ach richtig! Ich habe ja meinen Digitalwecker um zehn Minuten vorgestellt, damit ich nicht zu spät zum Dienst komme. Das hatte ich jetzt vergessen. Na dann warte ich halt die paar Minuten...
...So ging das Leben also weiter und ich begann schon, die ganze Sache zu vergessen. Es kam mir gar nicht in den Sinn, in Panikstimmung zu gelangen...
...bis es dann endlich der 9. Januar 1972 war, da wurde ich dann doch etwas unruhig vor Spannung. Ich sah auf meine Uhr und stellte fest, daß es erst kurz nach 10:00 Uhr war. Was hatte die Wahrsagerin gesagt? Um 12:36 Uhr sollte es geschehen? Na wollen doch mal sehen, wie mich ein Auto überfahren soll, wenn ich die ganze Zeit auf meinem Zimmer bleibe. Ha ha, ist das ein Blödsinn! Ich werde hinterher der Wahrsagerin einen Besuch abstatten, damit sie mit eigenen Augen sieht, daß sie sich getäuscht hat...
...11:25 Uhr - hm, ob sich die Frau wohl genau genug die Zeit angesehen hat? Ist doch auch bloß eine Hexe...
...12:20 Uhr - was mich jetzt interessiert hätte: Ob da unten auf der Straße vor dem Haus der Wahrsagerin wohl jetzt der berüchtigte gelbe Jaguar anfährt?...
...12:30 Uhr...
...12:32 Uhr - hach, ich halte das kaum noch aus!...
...12:34 Uhr - nur noch zwei Minuten. Habe ich mich eigentlich auch nicht im Datum geirrt? Nein, es ist wirklich der 9. Januar 1972...
...12:35 Uhr - verdammt, wird nun etwas geschehen oder nicht?...
...12:36 Uhr - so, da hätten wir's! Damit wäre wohl bewiesen, daß diese ganze Wahrsagerei der reine Humbug ist. Laut Voraussage müßte ich jetzt tot sein. Bin ich's? - Stuss!...
...12:38 Uhr - schon 12:38 Uhr und ich lebe noch immer. Jetzt werde ich mir wirklich die Genugtuung verschaffen und dieser alten Hexe einen Besuch abstatten. Bin doch gespannt, was die für ein Gesicht macht, wenn die mich sieht...
...12:40 Uhr - ich bin bereits unterwegs. Nur noch wenige Meter trennen mich von dem Hexenhaus. Ich überquere gerade die Straße und blicke dabei nochmals voll Genugtuung auf meine Armbanduhr, die ich immer nach dem Digitalwecker stelle. Es ist bereits 12:45 Uhr! Schon neun Minuten bin ich eine Leiche, hohoho.
Während ich auf die Uhr sehe, höre ich einen Jungen rufen: Ooh Mutti, guck mal den tollen Wagen! Ganz gelb ist der!...
Tja, und wie ging die Geschichte weiter?
Ich hatte gerade den letzten Meter zum Bordstein machen wollen, als mich tatsächlich dieser tolle, gelbe Wagen mit einer Wucht von der Seite packte, dass es mich über fünf Meter weit schleuderte. Mit dem Kopf schlug ich zuerst an einen Laternenpfahl und dann mehrmals gegen den Bordstein - nur Schritte vom Haus der Wahrsagerin entfernt...
...Er war sofort tot. War ein schwerer Unfall. Der Beifahrer des Jaguar E ist auch bös dran. Nur dem Fahrer selbst ist nichts passiert - wie üblich. Aber unser Patient, - na hier haben sie's schriftlich: Dreifache Schädelfraktur, linker Schulterriss, rechtes Bein zweimal gebrochen, Komplikationsgrad 2 und der eingedrückte Magen. Da können wir kaum noch was von den Innereien für die organische Abteilung verwerten...
meinte der Untersuchungsarzt des Kriminalamtes.
MORAL: Stelle nie deine Armbanduhr nach dem Digitalwecker!